Joël Morand – Ein langjähriger Singknabe kehrt als Stimmbildner zurück

Eine meiner ersten und schönsten Erinnerungen aus meiner Zeit als Solothurner Singknabe ist die schier endlose italienische Autobahn. Während der langen Carfahrten auf unserer Konzertreise durch Norditalien sass ich oft ganz vorne auf der obersten Treppenstufe zum Mittelgang und schaute durch die riesige Windschutzscheibe der vorbeiziehenden Landschaft zu. (Die Anschnallpflicht wurde vor 20 Jahren noch nicht so ernst genommen.)

Die Frühlingslager am Lago Maggiore, damals noch in Vira di Gambarogno, mit Fussballspiel, Glacé essen am See und den abendlichen Spielen im Kreis, die vielen Konzertreisen mit den langen Carfahrten durch ganz Europa, die verschiedenen Städte und Gastfamilien, all das ist mir noch in bester Erinnerung. Dass wir neben all dem eigentlich ja auch noch gesungen haben, ist mir ehrlich gesagt gar nicht mehr so präsent.

Obwohl ich durch die Singknaben meine Leidenschaft für die Musik und so zu meinem heutigen Beruf gefunden habe, waren für mich die spannenden Aktivitäten und Unternehmungen, die ich mit meinen Sängerkameraden erleben durfte, am allerschönsten. Das mit der Musik entwickelte sich erst nach und nach: Denn Singknabe zu sein, kann ganz schön anstrengend sein. Diese ganze «Proberei» mit dem Stillsitzen, Ruhigsein und Konzentrieren war für mich als Kind manchmal sehr zermürbend. Oft gingen die Minuten so träge dahin, dass ich dachte, diese Freitagsprobe geht wohl nie zu Ende.

Wenn heute ein Knabe zu mir in die Stimmbildung kommt und, kaum hat er einen ersten Ton gesungen, den Blick schon gleich mal über die Armbanduhr wandern lässt, muss ich immer schmunzeln. Wenn im Gottesdienst die Füsse vom langen Stehen schmerzen, wenn man sich zusammenreissen muss, dass man sich während der Probe auf den Chorleiter und nicht auf die «Schutibüudli» des Sitznachbarn konzentriert oder wenn man sich an einer schwierigen Stelle im Weihnachtsoratorium von J.S. Bach fast die Zähne ausbeisst: Ich habe all diese Dinge selber erlebt und ich weiss, es ist nicht leicht, ein Singknabe zu sein. Und das ist auch gut so.

Um auf einem solch hohen Niveau zu musizieren, braucht es Durchhaltewillen und Disziplin. In unzähligen Stunden wird anspruchsvolle Musik aus verschiedensten Epochen und Stilen erarbeitet, um schlussendlich gemeinsam als Chor auf die Bühne zu treten und zu singen. Spätestens, wenn im Publikum der Beifall losbricht, einzelne «Bravo!»-Rufe erklingen und sich die Leute klatschend erheben, weiss man: Es hat sich alles gelohnt! Durch solche Erlebnisse hat sich meine Freude am Singen und meine Liebe zur Musik nach und nach entfaltet. Mit meiner Arbeit als Stimmbildner möchte ich den Knaben- und Männerstimmen genau diese Freude weitergeben. Ich will ihnen zeigen, dass durch regelmässiges Üben sowie eine gesunde Portion Selbstdisziplin Hürden überwunden und hoch gesteckte Ziele erreicht werden können. Jeder Singknabe ist wichtig, denn jede Stimme trägt in einem Chor zum Gesamtklang bei. Und wenn das alles mal doch zu anstrengend werden sollte, stehen dir links und rechts die Kameraden zur Seite.

Nebst dem Musikalischen sind es genau solche Dinge, die ich aus meiner Zeit als Singknabe mit ins Leben genommen habe. All die gemeinsamen Erlebnisse sowie das Arbeiten in der Gruppe schweissen unglaublich stark zusammen und es bilden sich dadurch Freundschaften fürs Leben.

Ob man jetzt nach der Zeit als Singknabe in der Musik landet oder auch nicht: Jeder lernt dazu, sammelt seine Erfahrungen und füllt sich seinen Rucksack für den persönlichen Lebensweg, egal wohin dieser schlussendlich auch führen mag. Wer weiss, wäre aus mir kein Sänger geworden: Ich sässe jetzt wahrscheinlich am Steuer eines Reisecars.

Joël Morand
Stimmbildner der Singknaben

Gesamtes Bulletin